Das Lied der Anderen

Interview mit dem Regisseur Vadim Jendreyko

Interview

Was hat Sie auf die Suche nach Europa geführt?

Es ist für mich erschütternd zu erleben, wie ein Gebilde, an dem Generationen gewirkt haben, das nach der Erfahrung von furchtbaren Kriegen demokratische Grundwerte sichern sollte, auf ein Werkzeug für nationalstaatliche Eigeninteressen reduziert wird. Wie kann es sein, dass eine so einzigartige historische Chance, wie sie Europa darstellt, einfach preisgegeben wird? Diese Sorge hat mich motiviert, sie stand am Anfang meiner Suche.

Sie sprechen von der EU?

Die EU ist für mich ein Versuch, historische Erfahrung in etwas Konstruktives umzuwandeln. Ein Projekt für eine bessere Zukunft. So war das zumindest am Anfang angedacht, als ehemalige Kriegsgegner sich zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit entschlossen, um den Frieden zu sichern. Europa ist für mich aber viel mehr als das, es ist die Versammlung von unterschiedlichsten Einzigartigkeiten auf relativ engem Raum.

Können Sie das ausführen?

Mein persönliches Verhältnis zu dem, was ich ‘Europa’ nenne, fusst in meiner Kindheit. Europa war für mich eine Art unerschöpfliche Schatztruhe, in der Menschen mit den unterschiedlichsten Eigenarten Platz hatten. Sprachen, von denen ich kein Wort verstand, Speisen, die zu probieren Mut brauchten. Ich bin in der Schweiz aufgewachsen, im Dreiland an der Grenze zu Deutschland und Frankreich. Egal, in welche Himmelsrichtung ich mich bewegte, es gab immer Unterschiedlichkeiten: andere Klänge, Gerüche, Stimmungen. Es gab mehr zu entdecken als ich mir vorstellen konnte und das erlebte ich als unheimlich vielversprechend und einladend. Ich wusste: egal wie ich heisse, aussehe und denke, ich habe Platz in diesem Europa.

Und hat sich das verändert?

Ja, grundlegend. Von diesem Gefühl ist heute nicht mehr viel übriggeblieben. Es war ein schleichender Prozess und hat auch mit der Veränderung meiner eigenen Sichtweisen im Laufe der Jahre zu tun. Aber die Stimmung, die ich noch als Jugendlicher an vielen Orten erlebt habe, hat sich verändert. Vor vielen Jahren habe ich auf einem kleinen Bahnhof in Ligurien die Graffiti gelesen: "Non si balla più, non si canta più". Das bringt es ziemlich auf den Punkt.

War es also eine Sehnsucht nach einer verlorenen Zeit, die Sie angetrieben hat?

Ich würde eher sagen, die Sehnsucht nach Zeit. Man tanzt und singt, wenn man Zeit hat. Wenn man nicht einem Zweck hinterherrennt. Und wenn man in Frieden leben kann! Am Anfang dieses Projektes habe ich mich gefragt, ob das, was Europa früher für mich bedeutet hat, eine naive Projektion war, eine Wunschvorstellung. Aber es war viel mehr war als das: das Europa meiner Kindheit war teuer erkauft von der Generation vor uns, es war ein Ausatmen der Geschichte, in der noch kurz vorher Krieg und Verfolgung geherrscht hatte. Ich hatte einfach das Privileg, in diesem Moment der Geschichte aufzuwachsen, in der jede Zukunft besser schien als die Vergangenheit. Und dann plötzlich klopfen sie wieder an, diese Wiedergänger der Vergangenheit, einfach in neuen Gewändern. Ich denke, es liegt jetzt in unserer Verantwortung, das zu stärken, das uns vor altbekannten Abgründen schützen kann. Bis vor kurzem gab es noch viele Zeitzeug:innen, die wie Wächter:innen rote Linien gezogen haben, die nicht überschritten werden durften. Sie hielten uns gewissermassen den Rücken frei, oft ohne dass uns das ganz bewusst war. Diese Menschen sind nun fort, jetzt liegt es an uns.

Wer sind die Anderen, die das Lied singen?

Die Anderen, das sind die mit den leisen Stimmen, die nicht in den Geschichtsbüchern gefeiert werden.  Menschen, die sich ausserhalb der öffentlichen Aufmerksamkeit für andere einsetzen. Es sind die Andersdenkenden, die mich zu anderen Perspektiven einladen. Der Titel ist ein Zitat aus dem Film. Nach dem Bosnienkrieg, nach der vier Jahre dauernden Belagerung von Sarajevo, haben sich Menschen zusammengetan und einen Chor gegründet. Angehörige verschiedener Ethnien, die sich kurz zuvor noch grosses Leid zugefügt haben, haben begonnen gemeinsam ihre Lieder zu singen, also auch die Lieder der Anderen. Ihre Liebe zur Musik hat es möglich gemacht, dass Atheist:innen leidenschaftlich christliche Psalmen singen, Muslim:innen orthodoxe Lieder usw. Es geht dabei nicht darum, sich dem anderen anzupassen, sondern diese andere Seite besser verstehen zu lernen, und dadurch auch sich selbst.

Wie hat sich der Film thematisch im Verlaufe der Zeit entwickelt?

Ich wollte von Anfang an eine filmische Recherche machen, also mich einem wirklichen Prozess mit offenem Ausgang aussetzen, mit allen Risiken, die dieser birgt. Zuerst zu recherchieren und dann einen abgeschlossenen Prozess filmisch nachzuerzählen, hat mich nicht interessiert. Risiken sind beispielsweise, dass ich aus einer bestimmten Perspektive heraus etwas filme, im Laufe der Zeit sich die Perspektive verändert und ich dann aber mit dem bereits gedrehten Material arbeiten muss. Oder dass ich feststelle, in eine Sackgasse geraten zu sein und eine Frage vielleicht ganz anders angegangen werden muss. Ich habe deshalb eine filmische Form gewählt, die Umwege und Sackgassen erlaubt hat. Ein Essay eben. Trotzdem ist mir das oft nicht leicht gefallen…

Wieso?

Naja, sich voller Elan auf eine Reise einzulassen und nicht zu wissen, wo sie endet, klingt wunderbar. Es fühlt sich dann aber anders an, wenn man seit Tagen durchnässt durch den Nebel irrt und zum fünften Mal an dieselbe Weggabelung kommt… Und stilistisch hat es natürlich auch Folgen.

Können Sie da konkreter werden?

Wenn ich mich von der Situation leiten lasse, kann ich Entwicklungen und Bewegungen manchmal antizipieren und es gelingt mir vielleicht ein eleganter, manchmal sogar magischer Schwung. Wunderbar. Aber manchmal gerate ich in einen Graben und bleibe stecken, alles wackelt und ruckelt und das Licht ist auch noch viel zu grell und flach, aber die Szene ist inhaltlich wichtig. Das bedeutet im Schnitt dann ziemliche Dehnübungen für den Anteil in mir, der nach den eleganten, magischen Schwüngen sucht.

Zurück zur thematischen Entwicklung des Filmes im Laufe der Zeit…

Am Anfang hat ich mich sehr beschäftigt, wie ich die Dringlichkeit, die dieser Film für mich hat, plausibel machen kann. Mit Anna Götte, die intensiv am Entstehungsprozess des Filmes mitgewirkt hat, haben wir viele Szenarien durchgespielt, wie wir die zentrale Frage vermitteln können, ob sich die Geschichte mit all ihren Albträumen immer und immer wieder neu wiederholen muss. Diese Ausgangslage hat sich im Projektverlauf komplett verändert und unsere Sorge, die Dringlichkeit zu vermitteln, scheint angesichts der neuen Kriege in und um Europa geradezu absurd.

Eine andere Entwicklung war meine persönliche Ausrichtung: zu Beginn war ich komplett ergebnisoffen unterwegs. Mit der Zeit bin ich dann bestimmten Spuren gefolgt. Z. B. bin ich wiederholt auf ehemalige Kriegsschauplätze gestossen. Diese Orte haben mich angezogen, ohne dass ich sie bewusst gesucht habe. Und an diesen Orten bin ich dann vor allem auf Männer gestossen, die versuchten, etwas umzuwandeln, was andere Männer vor ihnen dort angerichtet haben.

Und wichtig für mich: vor ein paar Jahren hätte ich Begriffe wie ‘Geschichte’ oder ‘Erinnerung’ eindeutig in der Vergangenheit angesiedelt. Heute sehe ich beides viel mehr im Zusammenhang mit Zukunft. Das war ein klarer Lernprozess für mich. Der bosnische Schriftsteller Dževad Karahasan, der auch im Film vorkommt, bringt das folgendermassen auf den Punkt: Vergangenheit ist der Boden, auf dem die Pflanze wächst. Gegenwart und Zukunft ziehen ihre Nährstoffe daraus. Im Film gehe ich der Frage nach, wie wir aus dem Muster von sich wiederholenden Albträumen ausbrechen können. Welche Geschichten wir wie erinnern, ist dabei die Weiche für unsere Zukunft.

Welche Begegnungen haben Sie nachhaltig geprägt?

Es ist noch zu früh für mich, um diese Frage zu beantworten. Aus meiner heutigen Perspektive ist es vielleicht der Chor. Das meine ich einerseits konkret in Bezug auf den Chor, der im Film vorkommt. Mit seiner wunderbaren charakterlichen und stimmlichen Wucht und Vielfalt. Und andererseits meine ich das metaphorisch, also die versammelten Protagonist:innen im Film, jede und jeder mit seiner und ihrer Eigenart, die zusammen einen Chor bilden.

Was bedeutet Europa für Sie heute?

Eine Chance. Und eine grosse Verantwortung.

Das Interview wurde von Anaïs Steiner geführt.